Liya Yu

Short Term Fellow von Mai 2012 bis Juni 2012

In Deutschland als Kind chinesischer Einwanderer aufgewachsen – mein Vater studierte in den achtziger Jahren mit einem Stipendium des Lutherischen Missionswerks in Deutschland, konnte jedoch nach der Tiananmen-Demokratiebewegung 1989 nicht gleich nach China zurückkehren – machte ich mein Abitur an der Deutschen Botschaftsschule in Peking. Mein Studium der Politischen Philosophie und der Vergleichenden Politikwissenschaft schloss ich als Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes an der University of Cambridge (Christ’s College), England, mit einem B.A. im Jahr 2008 ab. In Cambridge gründete ich mit Professor Quentin Skinner die interdisziplinäre „Thinking Society“. Nach meinem Studium arbeitete ich als Forschungsassistentin für Sandra Gidley MP (Liberal Democrats) im Britischen Parlament sowie an der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in der Redaktion „Internationale Politik“ in Berlin.

Seit 2009 bin ich als Doktorandin der Politischen Philosophie an der Columbia University, New York, und schreibe an einer Arbeit mit dem Titel: „When does identity politics turn pathological? Towards a political phenomenology of social cognitive neuroscience“. Die Arbeit beschäftigt sich mit dem Thema Identität und versucht, einen politikwissenschaftlichen Erklärungsansatz zwischen subjektiver Erfahrung von Identität und sozialer Hirnforschung zu finden.

Meine Forschungsinteressen sind die Philosophy of Mind, Liberalismustheorien, Hobbes, Kant, Rawls und Arendt, Demokratietheorien, Globalisierung sowie China- und Asienpolitik.

An der Columbia University war ich studentische Senatorin im Universitätssenat und Kovorsitzende des dazugehörigen Außenbeziehungsausschusses. In China bin ich zivilgesellschaftlich aktiv und äußere mich im CCTV-Fernsehen sowie in führenden Tageszeitungen zu Erziehungsreformen und Problemen der chinesischen Jugend. Ich bin zudem Kolumnistin der Guangdong Technologischen Zeitung. Meine zweite Leidenschaft ist die Literatur. Ich habe in Deutschland, China und den USA Kurzgeschichten und Gedichte in allen drei Sprachen veröffentlicht und arbeite im Moment an einem Radiohörspiel über multikulturelle Identität im Westen.

Projekt am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover

"Wann werden politisierte Identitäten pathologisch? Versuch eines Erklärungsansatzes zwischen politischer Phänomenologie und sozialer Hirnforschung"

 Mein Projekt setzt sich mit dem gegenwärtigen Phänomen der Identitätspolitik auseinander. Ich versuche anhand eines interdisziplinären Ansatzes zwischen der subjektiven Erfahrung von Identität und sozialer Hirnforschung ein Modell zu erstellen, das erklärt, wieso mancheGruppenidentitäten anderen Identitätsgruppen gegenüber tolerant bleiben, während andere öffentliche Identitäten ausgrenzend und gewalttätig werden. Ich setze mich in meinem Ansatz bewusst von gängigen Erklärungsansätzen zur Identitätspolitik in der Politikwissenschaft ab, wie zum Beispiel der ‚rational choice theory’ in den Vergleichenden Politikwissenschaften oder der Ideologieanalyse (Identität wird dort konzeptuell als eine Ideologie erfasst) in der Politischen Theorie.

Mein Argument ist, dass diese traditionellen Ansätze nicht ausreichend für das Verständnis gegenwärtiger Identitätspolitik sind, da sie die intensiven emotionalen und existenziellen Erfahrungen, die Identität mit sich bringt, ignorieren. Mein interdisziplinäres Modell verbindet einerseits die neurobiologischen Prozesse auf der Gehirnebene, andererseits die subjektiven Erfahrungen, die sich aus der öffentlichen Identifikation mit Identitätsgruppen ergeben. Anhand des unterschiedlichen Kontextes, in dem Identitäten sich ursprünglich formen, und den daraus folgenden kognitiven Einflüssen auf unser Erinnerungs- und Gefühlssystem untersuche ich, wann Identitäten adaptiv-tolerant oder pathologisch-ausgrenzend werden. Ich teste mein Modell anhand von Fallstudien aus der Anthropologie sowie aus der Geschichts- und Politikwissenschaft. Dazu gehören Beispiele wie der Kosovokrieg, Hutu-Flüchtlingsidentitäten in Tansania, antikosmopolitische Identitäten im postsowjetischen Odessa und Chinas Erziehungspolitik nach der Reform.

Der normative Hintergrund meines Projektes liegt in der Frage, welches die kognitiven Bedingungen für die Teilhabe an einem rationalen politischen Gemeinwesen sind. In diesem Sinne knüpft mein Projekt an Fragen von Hobbes, Kant und Rawls an. Die Grenzen unseres Gehirns hinsichtlich der kognitiven Fähigkeit, ausschließlich das Universale zu begehren, und das zugleich bestehende Bedürfnis, eine spezifische Identität haben zu wollen, sind eine Herausforderung für den rationalen Staat der Aufklärungsdenker. Der Versuch, die Beweggründe für Identitätszugehörigkeit zu erforschen, ist ein erster Schritt, sich dieser Herausforderung zu stellen.