Prof. Dr. Maria-Sibylla Lotter

Fellow von Oktober 2016 bis Februar 2017

Meine Forschungstätigkeit dreht sich um die kritische Untersuchung unserer moralischen und ethischen Lebensform, d. i. der selbstverständlichen, oft gar nicht bewussten Gewohnheiten des ethischen und moralischen Wahrnehmens, Fühlens und Denkens. Dabei stütze ich mich zur begrifflichen Analyse und Kritik einerseits auf die philosophischen Traditionen der Antike und Neuzeit bis zur Gegenwart. Andererseits erweist es sich immer wieder als erforderlich, die Philosophie der Neuzeit selbst einer Kritik mit Blick auf ihre Eignung für eine Ethik des Alltagslebens zu unterziehen. Um philosophische Positionen insbesondere der Moderne und Gegenwart nicht nur auf ihre interne Konsistenz und Kohärenz, sondern auch ihre Adäquatheit überprüfen zu können, sind externe normative Gesichtspunkte erforderlich, die ich teilweise durch die Auseinandersetzung mit antiken und nichteuropäischen Denktraditionen gewinne. Ich berücksichtige aber auch die ethischen Reflexionsmöglichkeiten, die sich in den verschiedenen Bereichen der Kunst, insbesondere Literatur und Film, mit Blick auf eine Ethik des Alltagslebens entwickelt haben.

Mein Studium der Philosophie, Ethnologie und Religionswissenschaft begann 1981 in Freiburg und führte mich nach einem Wechsel an die FU Berlin und einem Auslandsjahr an der University of St. Louis/Missouri an das Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie der TU Berlin, wo ich später als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war und 1993 über Whiteheads Metaphysik promovierte. Die anschließende Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem DFG-Projekt über Gesetzesbegriffe in den Wissenschaften (Universität Heidelberg) mündete schließlich in ein von der DFG gefördertes Habilitationsprojekt über die Frage, was verantwortliche Personen ausmacht. Das daraus resultierende Buch Scham, Schuld, Verantwortung, das auf meiner Habilitationsarbeit an der Uni Zürich aufbaut, untersucht nicht nur die vertrauten Personbegriffe der europäischen Tradition, sondern entwickelt einen Begriff von sozialer Personalität, der es einerseits erlaubt, auch andere kulturelle Traditionen einzubeziehen, andererseits aber auch eine Kritik kultureller Selbstmissverständnisse liefert. Nach diversen Tätigkeiten als wissenschaftliche Mitarbeiterin, Lehrbeauftragte, Übersetzerin und Vertretungsprofessorin an den Universitäten in Erlangen-Nürnberg, St. Gallen, Konstanz, Gießen, Zürich und Stuttgart lehre ich seit 2014 als ordentliche Professorin für Ethik und Ästhetik am Institut für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum.  

Projekt am fiph

Narrative Kunst als ethisches Reflexionsmedium

Mein Projekt setzt das 2012 am FIPH begonnene Projekt „Die moralischen Dimensionen des Alltagslebens“ fort, verlagert den Schwerpunkt jedoch auf die Frage, auf welche Weise ethische Probleme des Alltagslebens in fiktionalen Narrativen reflektiert werden. Anknüpfend an Arbeiten von Iris Murdoch, Hans Robert Jauss, Stanley Cavell, Martha Nussbaum und Noel Carroll möchte ich untersuchen, welchen Beitrag künstlerische Reflexionsformen insbesondere zur Entwicklung moralischer Wahrnehmung und zum Verstehen sozialer Komplexität leisten können. Als Leitidee dient die Überlegung des Literaturwissenschaftlers Hans Robert Jauss, dass das Moralische im Ästhetischen aufhört, selbstverständlich zu sein. Diese Nicht-Selbstverständlichkeit der Moral und der damit verbundene anti-konventionelle Zug narrativer Kunst wurde von Moralphilosophen oft mit Skepsis betrachtet. Kein Wunder, denn bis heute ist die Vorstellung verbreitet, dass die Moral im Idealfall aus Normen und Werten besteht, die unstrittig sind und die jeder auf die gleiche Weise versteht, so dass man sich bei Streitigkeiten auf rationale Weise verständigen kann. Was anspruchsvolle narrative Kunst uns durch die Erzählform vermittelt, ist jedoch meist keine eindeutige und klare moralische Botschaft. Nicht nur für die Romane Dostojewskis, sondern auch für anspruchsvolle Filmkomödien wie Toni Erdmann gilt: Allein um zu verstehen, was überhaupt in der Interaktion der Protagonisten auf dem Spiel steht, und wie es moralisch einzuschätzen ist, ist reflexive Urteilskraft gefordert. Die moralische Reflexionsleistung narrativer Kunst ist somit interaktiver Art: Die Rezipienten müssen selbst zu den moralischen Einschätzungen gelangen, für die ihnen die konventionelle Ethik ebenso wenig eine zureichende Grundlage liefert wie die deontologische Ethik Kants oder der Utilitarismus. Entsprechend können ihre Schlussfolgerungen im Ausgang von den eigenen Erfahrungen durchaus unterschiedlich sein. Mit Blick auf diese aktive Rolle der Rezipienten möchte ich mich am FIPH besonders ausgiebig mit der Ästhetik John Deweys befassen, der eine Kunsterfahrung, die nicht als reiner Genuss verstanden wird, sondern aktive und passive Momente umfasst, als Paradigma gelingenden Lebens versteht.