PD Dr. Karen Joisten

Fellow von Oktober 2010 bis Juli 2011

Als Philosophin steht man vor dem Anspruch, Spezialistin zu werden und das Universale nicht aus dem Auge zu verlieren, historische Detailkenntnisse zu erwerben und den systematischen Blick nicht zu trüben, der anderen Position gegenüber gerecht zu sein und für die eigene Position einzutreten. Auch wenn dieser Anspruch nach philosophischer Tiefe und Weite eine unlösbare Aufgabe darstellt, ist er leitend für ein Philosophieren, das quer zu stehen vermag und sich einer Vereinnahmung entziehen kann.

Mein Studium der Philosophie, Germanistik und Pädagogik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz schloss ich mit einem Magister und mit einer Promotion über Friedrich Nietzsche 1993 ab. Möglich wurde mir dies als Stipendiatin der Landesgraduiertenförderung bzw. als Wissenschaftliche Mitarbeiterin und später Assistentin am Philosophischen Seminar der Mainzer Universität am Lehrstuhl von Prof. Dr. Josef Reiter. 2001 erfolgte meine Habilitation im Fach Philosophie mit einer Arbeit über „Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie“, in der ich systematisch eine Deutung des Menschen als Heim-weg vorstellte und diese historisch anzuwenden versuchte. Seit dieser Zeit habe ich eine Hochschuldozentur für Philosophie in Mainz inne.

Meine Forschungsschwerpunkte liegen auf den Feldern der Ethik, der Kulturphilosophie und der Methodenlehre. Diese Felder sind aufs Engste miteinander verbunden und bereichern sich gegenseitig. Sie konzentrieren sich auf die wissenschaftlichen Themen: der Deutung des Menschen (auch des Sport treibenden) und seines Handelns; der Deutung dieses Handelns anhand der Analyse kultureller Phänomene; der Form des Wissens und Sprechens, die mit einer solchen Deutung einhergeht.

In den letzten Jahren gilt mein besonderes Interesse der Frage nach der Verbindung der Ethik mit der diskursiven Wissensform der Narrativität. Denn Erzählungen können mit Paul Ricœur als „Forschungsreisen durch das Reich des Guten und Bösen“ angesehen werden, wie sich darüber hinaus in der Analyse menschlichen Handelns und (Er-)Lebens narrative Formen und Strukturen erkennen lassen.

Projekt am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover

"Die Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps"

Der Philosoph Wilhelm Schapp (1884-1965) gehörte zum engsten Kreis Edmund Husserls, des Begründers der Phänomenologie, in Göttingen, unter dessen Betreuung er seine Dissertation „Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung“ verfasste. Neben juristischen Schriften veröffentlichte Schapp die Untersuchung „Metaphysik des Muttertums“ (1965) und die drei Bände seiner so genannten ‚Geschichtenphilosophie‘, nämlich „In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding“ (1953), „Philosophie der Geschichten“ (1959) und „Metaphysik der Naturwissenschaft“ (1965). (Der bisher unveröffentlichte Nachlass, der im Staatsarchiv München aufbewahrt ist, umfasst etwa 20.000 Textseiten.)

Die philosophische Relevanz seines Denkens liegt in der Entfaltung einer originären Geschichtenphilosophie, die den Anspruch hat, eine Neudeutung des Menschen vorzulegen. Während nämlich Husserl die Intentionalität des Bewusstseins und damit zusammenhängend den menschlichen „Bewusstseins“- bzw. „Erlebnisstrom“ betont, legt Schapp den Fingerzeig darauf, dass diese Abfolge intentionaler Einstellungen zu kurz greift. Der Horizont, innerhalb dessen der „Strom des Bewusstseins“ seinen ‚Ort’ hat, bestehe in den Geschichten, in die der Mensch mit seiner Geburt immer schon hineinversetzt (Schapp spricht von „verstrickt“) ist. Geradezu programmatisch formuliert Schapp diese Einsicht in den ersten Sätzen seines Buches „In Geschichten verstrickt“: „Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt. Zu jeder Geschichte gehört ein darin Verstrickter. Geschichte und In-Geschichte-verstrickt-sein gehören so eng zusammen, daß man beides vielleicht nicht einmal in Gedanken trennen kann.“

Von hier her betrachtet, kann man Schapp zufolge einen Zugang zur personalen Identität eines Menschen nur über die geschichtliche Einheit einer Vielfalt seiner Geschichten gewinnen, in deren Aufweis kenntlich wird, wie man den jeweiligen Menschen je spezifisch verstehen kann.

Ziel des Projektes ist eine Untersuchung, die sich um eine Rekonstruktion der Geschichtenphilosophie bemüht und diese für unsere Zeit fruchtbar zu machen versucht. Dazu gehört es, Bezüge zu aktuellen Ansätzen im Kontext der narrativen Philosophie herauszuarbeiten, um die denkerischen Möglichkeiten und Grenzen des Schapp’schen Ansatzes ausloten zu können.