Fellow von Oktober 2024
bis Juli 2025
Zur Person:
Freya Häberlein hat Philosophie, Medienwissenschaft und Literatur an der Universität Hildesheim studiert und promoviert derzeit an der Leuphana Universität in Lüneburg. Bis August 2024 war sie Researcher, Moderatorin und Stipendiatin des Critical Philosophy Programme am New Centre for Research and Practice. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Technikphilosophie, sowie in deren Überschneidung mit umweltethischen Fragestellungen zum Verhältnis von Kultur, Technik und Ökologie. Insbesondere befasst sie sich aus ethischer Sicht mit der Bedeutung Nietzsches für die französische Technikphilosophie im Anschluss an Simondon, Deleuze und Stiegler. Dabei interessiert sie vor allem die Frage nach der Möglichkeit von Normativität im Zeitalter der Automatisierung.
In ihrem Studium hat sie mit diversen Formen der (philosophischen) Theorievermittlung experimentiert und mit filmischen und literarischen Beiträgen an transdisziplinären Ausstellungen und Tagungen teilgenommen sowie Lyrik und Essays veröffentlicht. Wegweisend war für sie dabei der Begriff der theory fiction zur Ergründung der Möglichkeiten und Eingrenzungen des Schreibens als Technik der Philosophie, die sich zum Beispiel durch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Anamnesis als gelebter Erinnerung und Hypomnesis als objektivierter, externalisierter und technisierter Form des Gedächtnisses in Platons Phaedrus ergibt.
Neben der Promotion ist Freya Häberlein als freie Lektorin in deutscher und englischer Sprache tätig und arbeitet als Museumsführerin in einem Freilandmuseum für neuzeitliche und vorindustrielle Kulturtechniken. Dort vermittelt sie interaktiv mit Kindern sowie durch Führungen die soziokulturellen und historischen Wirkungsweisen technischer Objekte, wie beispielsweise die Bedeutung des Webstuhls für die Entwicklung des binären Codes.
Homepage: http://www.freyahaeberlein.com
Das Projekt am FIPH
Titel: Tragödie und Technik. Ethik des Exzesses und der Disruption
Die griechische Tragödie und die tragische Philosophie der Vorsokratiker handelt von der Zyklizität von Leben und Tod. Das heißt, sie befasst sich mit der Tatsache, dass, wie der französische Technikphilosoph Gilbert Simondon schreibt, „der Tod eines Wesens die Bedingung für die Geburt eines anderen ist“. Dies stellt zunächst eine tiefgreifende Kritik an jener Form des Transhumanismus dar, der sicheres, stets harmonisches und andauerndes Leben verspricht, da der Wert des Lebens etwa auch durch Mangel, Krankheit und Tod definiert wird. Demgegenüber lässt sich durch Nietzsche, so Mathilde Marcolli, für eine andere Form des (anarchistischen) Trans-humanismus argumentieren, der den Menschen als Über- und Untergang versteht, stets eingebunden in das Dazwischen von Tier und idealisierter übermenschlicher Perfektion. Was Simondon mit Nietzsche teilt, ist das Interesse für die vorsokratische Philosophie, insbesondere Anaximanders, die das Seiende nicht als Substanz begreift (also Individuum, Gesellschaft und Technik scharf voneinander trennt), sondern eine Ontologie der Unbestimmtheit, des Exzesses und der Ambivalenz sucht.
Die kritische Aufgabe, die Nietzsche der Philosophie hinterließ, besteht darin, einen Weg zu finden, eine solche Ambivalenz der Werte anzuerkennen, ohne am Nihilismus zu verzweifeln. Laut Bernard Stiegler, der Simondons Technikphilosophie in der digitalen Gegenwart betrachtet, brauchen wir die Philosophie Nietzsches auch heute, im Zeitalter des „automatischen Nihilismus“. Einen solchen Nihilismus bezeichnet Stiegler auch als „Disruption“; durch Disruption wird das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv durch einen Verlust an Wissen und Normativität gekennzeichnet, in dem das Erinnerungsvermögen „proletarianisiert“ wird: Wir verlieren stetig an Knowhow, das von technischen Objekten – auch vermehrt von komplexen Algorithmen wie LLMs (Large Language Models wie z.B. ChatGPT) – übernommen wird. Daraus entstehen, so Stiegler, unzählige Krisen sozialer, psychologischer und ökologischer Art, die die Produktivität des psycho-kollektiven (und infolgedessen auch des technischen) Werdens stören oder unterbrechen. Ansätze zur Überwindung einer solchen Störung finden sich in den letzten von Stiegler veröffentlichten Texten, in denen er z. B. junge politische Aktivist*innen der Gegenwart mit Sophokles‘ tragischer Heldin Antigone vergleicht.
Die Tragödie spielt in der französischen Technikphilosophie des zwanzigsten Jahrhunderts eine bedeutende Rolle und gibt auch heute noch wichtige Anhaltspunkte zur Erörterung der Werte moderner Technologien. Disruption stellt dabei auch eine Bedrohung für eine weitere Dialektik dar, nämlich jene der technischen Pharmakologie (die Technologie gemäß des griech. pharmakon gleichzeitig als Heilmittel und Gift definiert, und in der diese Ambivalenz als produktiv gilt). Das Dissertationsprojekt möchte somit zeigen, inwieweit die Frage der Tragödie einen relevanten Beitrag zur Hermeneutik der Technikphilosophie darstellt.