Fellow von Oktober 2024
bis Juli 2025
Zur Person
Johanna Bröse hat an der Universität Tübingen Erziehungswissenschaft, Soziologie und Psychologie (Diplom) studiert und im Anschluss einige Jahre am Institut für Erziehungswissenschaft zu den Schwerpunkten kritische Migrations- und Übergangsforschung sowie subjektorientierter Praxisforschung geforscht und gelehrt. Johanna promoviert derzeit am Lehrstuhl für Politikwissenschaft und Politische Bildung der Universität zu Köln und ist Teil des interdisziplinären Graduiertenkollegs »Rechtspopulismus - Autoritäre Entwicklungen, extrem-rechte Diskurse und demokratische Resonanzen«. Ihre Forschung verbindet philosophische, politikwissenschaftliche und soziologische Ansätze, um die Bedeutung kollektiver Erinnerung und deren Einfluss auf soziale Bewegungen zu untersuchen. In dem Projekt, das sie derzeit verfolgt, entwickelt Johanna einen theoretischen Rahmen, der Elemente aus der Erinnerungsforschung, kritischer Theorie, kritischen anthropologischen Studien sowie feministischer Philosophie integriert, um den Umgang mit Erinnerung in verschiedenen kollektiven Bewegungen und Solidaritätsstrukturen zu untersuchen.
Johanna ist nach über zweieinhalb Jahren Leben in Istanbul nach Berlin zurückgekehrt und arbeitet als freie Autorin und Fotografin, Lektorin und Lehrende. Sie ist zudem in unterschiedlichen aktivistischen Kontexten aktiv. Johanna ist an politisch-philosophischem Austausch inner- und außerhalb akademischer Institutionen interessiert, insbesondere an feministischen, ökologischen und marxistischen Zugängen.
Das Projekt am FIPH
Im Fokus des Forschungsprojekts stehen die Verfasstheit von Solidaritätsstrukturen sowie ihr Zusammenhang mit erinnerten Ereignissen (zeitlich-räumlich-politisch-aktivistisch). Ein Strang, dem ich mit meinem Projekt nachgehen möchte, ist die Bedeutung von kollektiver Erinnerung und multiperspektivischen Erinnerungspraktiken für die Ausrichtung und Zusammensetzung von Solidaritätsstrukturen. In Rückbezügen auf Kritische Theorie, Erinnerungsforschung sowie feministische Philosophie werden Möglichkeiten ausgelotet und systematisiert, um kollektive Erinnerung als politische Praxis zu denken.
Meine Forschungen deuten darauf hin, dass kollektive Erinnerungen in aktivistischen Kontexten eine bedeutsame Rolle spielen und dass dabei das gemeinsame Erinnern als ein Instrument zur Stärkung der Solidaritätsstrukturen zu begreifen ist. Mit einem geteilten Vergangenheitsbezug werden soziale Beziehungen gestaltet, die über die räumliche Verortung der Kollektive, ihre aktivistische Ausrichtung sowie die Zeit, in der sie aktiv sind, hinausgehen.
Einem sorgenden, vielfach melancholischen Umgang mit Erinnerungen steht eine oft von oben betriebene »Politik des Vergessens« entgegen, die Vergangenheits-Trümmer zum Zwecke eines ideologisch zweckdienlichen Narrativs im Sinne von Macht und Herrschaft zusammensetzt. Die Widersprüche zwischen hegemonialer Erinnerungspolitik und Erinnerungspraxen von unten sind auch für die philosophische Betrachtung des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Bedeutung: Mit der Auslöschung von Leben, Lebensräumen und Zukünften erfolgt auch eine Auslöschung der Erinnerung an eine Vielfalt von Potenzialen. Diesen Prozessen bieten soziale Bewegungen mit ihren spezifischen Formen des Erinnerungsbezugs Einhalt – sie versuchen, aus diesen Trümmern vergangener Kämpfe Fragmente für ihre eigene Praxis zu bergen, das Mosaik der Geschichte(n) in einer anderen Art und Weise zu (re-)imaginieren – aus den »Abwesenheiten, Auslöschungen, Spuren, Fragmenten, Ruinen, Überbleibseln, Schweigen, Lücken und Leerstellen« (Yael Navaro). In meinem Projekt arbeite ich die widersprüchliche Dialektik von Herrschaft und Emanzipation anhand meiner Feldforschung aus einem physisch wie erinnerungspolitisch umkämpften Trümmerfeld (Antakya im Südosten der Türkei) exemplarisch heraus.