Prof. Dr. Maria-Sibylla Lotter

Fellow von Oktober 2011 bis Februar 2012

Die Aufgabe der Philosophie liegt für mich darin, eine kritische Auseinandersetzung zwischen den Bereichen des modernen Lebens und den Wissenschaften zu ermöglichen, die Gleise ausfindig zu machen, in denen man denkt, und alternative Denkweisen zu untersuchen. Dieses Verständnis von Philosophie ist durch Alfred North Whitehead und den amerikanischen Pragmatismus geprägt (John Dewey), aber auch durch die interdisziplinären Seminare des Evangelischen Studienwerks Villigst, das mein Studium mit einem Stipendium und seiner Kultur des offenen interdisziplinären Austauschs unterstützt hat.

Mein Studium der Philosophie, Ethnologie und Religionswissenschaft begann 1981 in Freiburg und führte mich nach einem Wechsel an die FU Berlin und einem Auslandsjahr an der University of St. Louis/Missouri an das Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie der TU Berlin, wo ich später als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war und 1993 über Whiteheads Metaphysik promovierte. Die anschließende Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem DFG-Projekt über Gesetzesbegriffe in den Wissenschaften (Universität Heidelberg) mündete schließlich in ein von der DFG gefördertes Habilitationsprojekt über die Frage, was verantwortliche Personen ausmacht. Da ich nicht nur vertraute Personbegriffe der europäischen Tradition untersuchen, sondern ein Konzept entwickeln wollte, das es ermöglicht, andere kulturelle Auffassungen von Personalität zu berücksichtigen, wurde es auch nötig, Übergänge zwischen philosophischen und kulturwissenschaftlichen Herangehensweisen zu konstruieren.

Währenddessen war ich in den letzten Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin mit besonderen Lehraufgaben im Bereich der Ethik und Religionsphilosophie am philosophischen Seminar der Universität Konstanz, als Vertretungsprofessorin der Universität Gießen, als Übersetzerin (Stanley Cavells „Cities of Words“) und in der Erwachsenenbildung tätig. Derzeit lehre ich als Privatdozentin an der Universität Zürich.

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Projekt am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover

"Die moralischen Dimensionen des Alltagslebens"

Anders als die antike Ethik haben moderne Philosophen, wenn es um Fragen der Moral geht, lange Zeit vor allem an Fragen der Begründung gedacht, die sich auf allgemeingültige Prinzipien unter den Gesichtspunkten der Unparteilichkeit, Universalität und Allgemeinheit richten. Daran hat sich auch das in der Moralpsychologie bis heute sehr einflussreiche Kohlberg-Modell der moralischen Entwicklung orientiert, demzufolge die Moralentwicklung des Individuums darin besteht, von einer präkonventionellen Ebene, wo es „nur konkret-operatorisch denkt“ zu immer formaleren und abstrakteren Prinzipien aufzusteigen. Zu moralischen Einsichten im eigentlichen oder höheren Sinne ist demnach nur das abstrakte Denken fähig, so als müsse das, was für die Mathematik und Logik gilt, auch für die moralischen Beziehungen gelten.

Dieser verengte Begriff des Moralischen bringt nicht nur eine Abwertung anderskultureller Ethiken mit sich, die nicht auf die abstrakte Erkenntnis vertrauen, sondern den Schwerpunkt auf die aufmerksame Wahrnehmung des Einzelfalls und die zwischenmenschlichen Beziehungen legen. Er hat auch dazu geführt, dass die komplexe Aufgabe der Bewältigung des Alltagslebens, bei der man weniger Prinzipieneinsicht und -festigkeit, als Sensibilität, moralische Phantasie und moralische Urteilskraft braucht, um differenziert mit verschiedenen Persönlichkeiten umgehen und seine je partikularen Rollen und Aufgaben wahrnehmen zu können, mehr oder weniger trivialisiert und als moralische Herausforderung vernachlässigt wurde. Aus der Fähigkeit zur Reflexion moralischer Prinzipien ergibt sich jedoch noch keine moralische Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungsfähigkeit, während umgekehrt ein philosophisch unreflektiertes, ungeprüftes Leben ein beträchtliches moralisches Know-how entwickeln kann. Anknüpfend an Arbeiten von Iris Murdoch, Stanley Cavell, Dorothy Emmett, Martha Nussbaum, Bernard Williams und aneren möchte ich mich in der nächsten Zeit vor allem auf die ethischen Dimensionen des Alltagslebens konzentrieren, mit einem Schwerpunkt auf der Rolle der Lebenserfahrung, der moralischen Wahrnehmung und des Gesprächs. Dabei gehe ich von einem nicht-hierarchischen Zusammenhang der verschiedenen Dimensionen des Moralischen aus, in denen die empirischen und partikularen, rationalen und prinzipienorientierten Formen moralischer Erkenntnis je unterschiedlich aufeinander zu beziehen und zu gewichten sind.